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Prof. Dr. Jakob Ossner, Germanist, Sprachwissenschaftler und Sprachdidaktiker, lehrte an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen sowie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung.
Wie kamen Sie zum Thema funktionaler Analphabetismus?
Als Professor mit dem Schwerpunkt Schreiben und Orthographie habe ich mich zwangsläufig mit dem Thema befasst. Zudem wurde während meiner Tätigkeit als Rektor der Pädagogischen Hochschule Weingarten ein Studiengang „Alphabetisierung und Grundbildung“ an der Hochschule eingerichtet. Den direkten Zugang erhielt ich jedoch, als der Deutsche Volkshochschul-Verband (DVV) beim Rat für deutsche Rechtschreibung im Zusammenhang mit dem „Rahmencurriculum Schreiben“ anfragte. Aus der daraus entstandenen Zusammenarbeit mit dem DVV entstand dann das „Rahmencurriculum Schreiben“ für funktionale Analphabeten.
Sie haben sich sehr für die Arbeit mit funktionalen Analphabeten und die Grundbildung engagiert. Wo liegen ihre Schwerpunkte?
Innerhalb des Rahmencurriculums gehen wir von den vier Alpha-Levels aus und setzen auf eine OrthographieTheorie, die vom Hören ausgeht, den Redestrom durchgliedert und über die Silbe zum Schreiben kommt. Dabei ist die Silbe eine natürliche Gliederungseinheit. Neben dem „Rahmencurriculum Schreiben“ liegen inzwischen auch berufsbezogene Arbeitsblätter vor, zum Beispiel für den Bereich Pflege, Metallverarbeitung, Hotel und Gaststättengewerbe. Weitere Anwendungsfelder sind in Bearbeitung. Für jeden Bereich gibt es einen speziellen Wortschatz, der orthographisch nicht immer ganz einfach ist. Kleine Geschichten dienen immer als Einstieg, bevor dann ein orthographischer Sachverhalt erarbeitet und vor allem geübt wird. Dazu gibt es immer Erarbeitungsblätter und Übungsblätter.
Das Rahmencurriculum ist als Unterstützung für Lehrende gedacht, die junge funktionale Analphabeten unterrichten, deren Erstsprache Deutsch ist. Bisher haben Lehrende teilweise Fibeln für Grundschüler benutzt und diese für Erwachsene umgearbeitet. Die Lehrkräfte sollen durch diese Materialien entlastet werden, um sich so ganz auf die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmenden einstellen zu können. Zur Entlastung dient auch, dass alle Lösungen für die gestellten Aufgaben mitgeliefert werden. Außerdem werden Hinweise und Hintergrundwissen zur Orientierung der Lehrkräfte geboten. Ich habe jetzt weit über tausend solcher Arbeitsblätter durchgesehen und achte dabei auch darauf, dass zum Beispiel die Arbeitsanweisungen einfach formuliert sind, sodass die Kursleitung keine Übersetzungsarbeit leisten muss.
Die Lehrkräfte können die Arbeitsblätter auf den Bedarf der Teilnehmenden abstimmen, denn wir bieten ein Spiralcurriculum an, so dass der Lehrende schnell Zugriff auf Material hat, das zum Level des Lernenden passt.
Was muss man Ihrer Meinung nach in der Lehrtätigkeit mit funktionalen Analphabeten beachten?
Wichtig ist es, in den Kursen ein soziales Klima zu schaffen, das den Teilnehmenden Fortschritte im Lernen ermöglicht. Dazu braucht der Lehrende Wissen über die Orthographie, eine hohe Empathie aus einer professionellen Distanz heraus, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, was in diesem Moment das Günstigste für den Lernfortschritt ist. Es geht also stark um Einschätzung der jeweiligen Kompetenzen und die richtige individuelle Förderung, ohne dass am Schluss alles in der Vereinzelung der Kursteilnehmer endet. Die Lehrenden sollten sich über die Grundlagen ihres Unterrichts orientieren und die Hinweise in den Unterlagen ernst nehmen. Sie sollten sich fragen, wo sie ansetzen können, damit das Lernen einen Ankerpunkt bei den Teilnehmern hat. An die Lehrenden werden hohe Ansprüche gestellt. Sie müssen den Teilnehmenden die Angst vor der Schrift nehmen und ihr diffuses Wissen aufbrechen. Die Kursteilnehmer erhoffen sich immer einen schnellen Erfolg, aber das Erlernen des Schriftsystems braucht einen langen Atem.
Was sind Ihrer Meinung die Gründe für diesen doch relativ hohen Anteil funktionaler Analphabeten in Deutschland/Baden-Württemberg?
Die Gründe sind wohl so vielfältig wie die individuellen Schicksale. Auch das Schulsystem scheint nicht immer zufriedenstellend zu funktionieren. Selbstkritisch möchte ich hinzufügen, dass nach meiner Meinung in der Lehrerbildung noch viel getan werden muss. Die Lese- und Schreibschwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern müssen frühzeitig nicht nur hinsichtlich der Defizite, sondern hinsichtlich des Könnens diagnostiziert werden. Dann muss die entsprechende Förderung einsetzen. Ich habe selbst öfters miterlebt, dass ein Schüler in einer Hauptschule ganz hinten saß und mit Malen beschäftigt wurde, weil er dem Unterricht nicht folgen konnte. Er hätte Übungen gebraucht, die ihn auf seinem Niveau ansprechen.
Welche Ziele sollte man anstreben?
Wichtig ist immer, dass Lehrende die angemessenen Ziele verfolgen und die Lernenden die Fähigkeit erwerben, sich die für sie passenden Ziele zu setzen. Wiederum ist man dann bei der Frage der richtigen Einschätzung des jeweiligen Könnens. Noch einmal: Es geht dabei um das Können, nicht um die Defizite! Wenn hier das Zusammenspiel von Lehren und Lernen passt, dann kann auch der lange Atem erhalten bleiben.