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Fahrkartenautomaten, Hinweisschilder, Bedienungsanleitungen, Beipackzettel – ohne ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse wird der Alltag immer wieder kompliziert. Ob eine Person als Analphabet gilt, hängt vor allem davon ab, welcher Grad an Schriftsprachbeherrschung für Alltag oder Beruf notwendig ist. Funktionaler Analphabetismus wird in der "Level-One-Studie" (leo) der Universität Hamburg von 2011 so definiert, dass Personen zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben können, jedoch Mühe haben, einen längeren zusammenhängenden Text zu verstehen. Die Lese- und Schreibfähigkeiten funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten können denen von Grundschülerinnen und Grundschülern in den ersten beiden Schuljahren ähneln. Betroffene Personen sind deshalb nicht in der Lage, in angemessener Form am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. So misslingt zum Beispiel auch bei einfachen Beschäftigungen häufig das Lesen schriftlicher Arbeitsanweisungen.
Dabei werden in der Studie vier verschiedene Levels unterschieden:
Alpha-Level 1: Personen fällt es schwer, auch einzelne Buchstaben zu erkennen (primäre Analphabeten/-innen).
Alpha-Level 2: Personen können dann zwar einzelne Wörter lesend verstehen, müssen aber Buchstaben für Buchstaben zusammensetzen.
Alpha-Level 3: Personen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, sind aber nicht in der Lage , zusammenhängende Texte zu schreiben oder zu lesen.
Alpha Level 4: Personen können bei Verwendung eines alltäglichen Wortschatzes lesen und schreiben, auch auf Textebene. Texte können zwar sinnerfassend gelesen werden, die Rechtschreibung weist aber noch viele Fehler auf.
Als funktionale Analphabeten gelten hier die Personen der Alpha-Level 1-3.
Funktionale Analphabetinnen und Analphabeten sind laut Level-One-Studie (LEO 2018) zu 63,2 Prozent erwerbstätig und lediglich zu 12,9 Prozent arbeitslos. Dreht man die Perspektive um, so sind 12,4 Prozent der Erwerbstätigen und 31,9 Prozent der Arbeitslosen funktionale Analphabeten.
Um in Beruf und Alltag zurechtzukommen, brauchen Personen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten viel Energie und Phantasie. Sie haben sich ausgeklügelte Strategien ausgedacht, um ihr Problem in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein, beim Einkaufen, beim Arztbesuch und auch im Familien- oder Freundeskreis überspielen zu können. So ist es etwa am Arbeitsplatz durchaus möglich, gute Ergebnisse abzuliefern und bei Vorgesetzten Anerkennung zu finden. Häufig gelingt es auch, auf der Basis der gegenseitigen Hilfe einen positiven Arbeitsalltag zu gestalten. Vielen Kolleginnen und Kollegen und Vorgesetzten ist es auch bekannt, wenn jemand nicht gut lesen und schreiben kann. Das wird vor allem dann schwierig, wenn der Betrieb umstrukturiert wird oder wenn die Digitalisierung voranschreitet. Die dann notwendige Weiterbildung fällt gerade wenig qualifizierten Beschäftigten schwer.
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gehen auch bei un- oder angelernten Beschäftigten davon aus, im Bedarfsfall Lese- und Schreibkompetenzen abrufen zu können. Darauf verweisen unter anderem die Ergebnisse einer repräsentativen bundesweiten Unternehmensbefragung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln aus dem Jahre 2012: Fast 90 Prozent der befragten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber erwarten von allen Beschäftigten, dass sie tätigkeitsrelevante Texte verstehen, und über 80 Prozent erwarten, dass alle Beschäftigten einfache Sachverhalte schriftlich formulieren können. Dies kann im Einzelfall eine Beschäftigung für funktionale Analphabetinnen und Analphabeten erschweren.
Seit 2011 liegen gesicherte Zahlen zum funktionalen Analphabetismus in Deutschland vor. Die Level-One-Studie (LEO 2018) hat ergeben, dass in Deutschland 12,1 Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren von diesem Problem betroffen sind. Dies entspricht etwa 6,2 Millionen Personen bundesweit. In Baden-Württemberg trifft dies rein rechnerisch (es wurden keine Zahlen auf Landesebene erhoben) damit auf rund 750.000 Erwachsene zu. Etwa 13,3 Millionen Menschen bzw. 25,9 Prozent liegen der Studie zufolge auf Alpha-Level 4.
Analphabetismus entsteht durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren, individueller, familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Art. Meist wurde trotz Schulbesuchs nicht ausreichend Lesen und Schreiben gelernt.
Legasthenie (Lese-/Rechtschreibeschwäche) dagegen geht ursächlich auf Erbfaktoren und auf Hirnreifungsstörungen zurück und wird von der Weltgesundheitsorganisation als eine Entwicklungsstörung des Gehirns definiert. Nach der Level-One-Studie sind nur 6 Prozent der funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten als Kinder oder Jugendliche als "Legasthenikerin" oder "Legastheniker" diagnostiziert worden.
Nein, denn von den 6,2 Millionen funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten haben mehr als 50 Prozent Deutsch als Erstsprache gelernt. Daraus folgt, dass dieses Problem seine Wurzeln in Deutschland hat und nicht importiert worden ist.
Der Begriff der Grundbildung geht über die reine Alphabetisierung, also Lesen und Schreiben, hinaus und schließt die Alltagserfahrungen und -anwendungen der Personen mit ein, vor allem in Hinblick auf Rechnen, den Umgang mit digitalen Medien, Gesundheit, Englisch und Wirtschaft. Zur Grundbildung gehören auch kulturelle und politische Bildung, um im Zusammenspiel mit anderen Komponenten eine möglichst breite Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland zu ermöglichen.
Bei der arbeitsplatzorientierten Grundbildung werden notwendige Lese-oder Schreibfähigkeiten aus der Praxis des jeweiligen Betriebs erlernt, etwa die branchen- oder berufsspezifische Fachsprache, das Erstellen von Dokumentationen und Arbeitsplänen oder auch betriebliche Kommunikation allgemein. Das Gelernte kann nach den Kursen sofort bei der täglichen Arbeit angewandt werden. Damit steigt die Motivation für die Lernenden und auch die Betriebe haben rasch einen Vorteil von den Kursen. Voraussetzung ist dabei vor allem eine enge Absprache zwischen den Betrieben und den Weiterbildungsträgern über die Kursinhalte. Am Anfang steht aber bei allen Grundbildungsbereichen das ausreichende Lesen und Schreiben.
Erfolg bei der arbeitsplatzorientierten Grundbildung setzt voraus, dass die Betriebe die Lernwilligen direkt unterstützen, so dass beispielsweise die Kurse ganz oder teilweise während der Arbeitszeit durchgeführt werden können. Zudem sollten die Betriebe Ansprechpersonen benennen, mit denen etwa die Kurszeiten im Schichtbetrieb abgesprochen werden können. Sinnvoll ist auch, dass Vertrauensleute in den Betrieben an Betroffene herantreten können, um sie für Lernprojekte zu motivieren. Ein Beispiel ist hierfür das Mento-Projekt des DGB.
Das Kultusministerium und die gemeinnützig arbeitende Technische Akademie für berufliche Bildung Schwäbisch Gmünd e.V. (TA) als Trägerverein haben die Fachstelle als landesweiten Ansprechpartner bei Fragen zu Grundbildung und Alphabetisierung eingerichtet. Die Fachstelle arbeitet hierbei trägerneutral und gemeinwohlorientiert, informiert über bestehende Lernangebote und setzt Impulse zur Entwicklung neuer Lernangebote insbesondere im betrieblichen und arbeitsplatzorientierten Kontext.
Sie fungiert darüber hinaus als zentraler Ansprechpartner ...
Ziel ist, zunächst die Zahl der Teilnehmenden als Nachfrager von Lernangeboten signifikant zu erhöhen, sodann zunehmende Lernerfolge zu sichern und dadurch schließlich die Zahl der Analphabeten insgesamt und vor allem der funktionalen Analphabeten unter den baden-württembergischen Erwerbstätigen zu reduzieren.
Die Fachstelle wirkt darauf hin, die dafür relevanten gesellschaftlichen Akteure in Baden-Württemberg zu aktivieren, zu sensibilisieren und in Netzwerken landesweit, lokal und regional zusammenzuschließen.